Katharina Hoffmann

Adrian Praschl-Bichler

Jonathan Seiffert

Marlene Lahmer

Wieden Leaks

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Ausstellungsansicht WIEDEN LEAKS, Bezirksmuseum 4. Wieden, Wien, 2021, Foto Credits: Katharina Hoffmann

Katharina Hoffmann

Leak [verb]

 

1 [intransitive, transitive] to allow liquid or gas to get in or out through a small hole

 

2 [transitive] leak something (to somebody) to give secret information to the public, for example by telling a newspaper [Oxford Learner’s Dictionaries]

 

Die letzte Ausstellung der vier Kurzinterventionen ist eng an ihren Ort gebunden. Das Wieden Bezirksmuseum stellt eine Bandbreite an Objekten aus, worauf die Forschungsgruppe WIEDEN LEAKS reagiert. Christopher Frieß, Marlene Fröhlich, Leonhard Pill und Noa Schaub forschten rund um das Thema Tröpferlbad. Die Präsentation der Gruppe spiegelt nicht bloß ihre Recherche wieder, sondern untermalen die Ergebnisse mit  eigens produzierten Geschichten, die direkten Bezug auf die Gegenstände des Bezirksmuseums als auch das Tröpferlbad[1] selbst nehmen. Diese Inhalte werden dann geleaked. Die Doppeldeutigkeit des Wortes Leak deutet damit nicht nur auf den Ausstellungsraum hin, sondern auch auf die Weitergabe von Wissen an die Öffentlichkeit. 

Die Gesundheit und Hygiene stehen im Vordergrund. Der „authentische Raum“[2] dient als zentrales Zeugnis des Wiener Alltags. Männer und Frauen waschen gemeinsam an einem öffentlichen Ort ihren Körper mit Seife. Ich stelle mir den Geruch von dieser Seife vor und die daraus resultierende Sauberkeit der Haut, während der Schmutz in den Abfluss rinnt. Die doppelte Ausstellungskraft dieser Intervention ist das eigentlich Faszinierende: Die Künstler*innen transferieren den Raum von einem öffentlichen Brausebad zu einem zugänglichen Ausstellungsraum. Die hinzugefügten Exponate stehen in einer Wechselbeziehung zum Bad, da sie entweder aus dem Bezirksmuseum selbst stammen oder thematisch passend ins Tröpferlbad hinzugefügt wurden. Obendrauf wird dem*r Besucher*in nicht nur wissenschaftliche Inhalte vermittelt, sondern Geschichten erzählt, die durch einen kreativen Prozess entwickelt worden sind.

Ein Audioguide übernimmt mir das Lesen der Texte ab und führt mich von Kabine zu Kabine. Ich lasse mich auf die Geschichten ein. Vieles bleibt in meinem Kopf hängen, wie der Schwangerschaftstest mithilfe eines Frosches, der Akt der Körperwaschung, Duschradios oder die Geburtsfliesen. Während die Informationen durch Erzählungen aus der Ausstellung in die Öffentlichkeit durchsickern, merke ich erst, wo sich bei mir die undichten Stellen meines Wissens befinden. Auch wenn ich versuche sie anhand von Nachforschungen wettzumachen, ist die Gruppe mir schon einen Schritt voraus: Durch die Erzählungen weisen sie auf die fehlenden Quellen und wissenschaftliche Recherche hin.

[1] Ehemaliges öffentliches Brausebad

[2] Teilweise wurde dem Raum neue Teile hinzugefügt

Adrian Praschl-Bichler

Mit der Entscheidung den Sprung ins kalte Wasser zu wagen und die Ausstellung Wieden Leaks im Tröpferlbad des Wiedner Bezirksmuseums zu besuchen, geht man bestimmt nicht baden. Aber genug von lauen Wortspielereien. Der Ort des ehemaligen öffentlichen Bades eröffnet eine völlig neuartige Möglichkeit des Ausstellens von Exponaten. Die weiß gefliesten, nach vorne offenen Duschkabinen zeigen jeweils ein Werk oder mehrere zusammengehörende Werke, die eine Geschichte erzählen, und bilden einen privaten Erfahrungsraum für eine einzelne, maximal noch eine zweite Person. Es entsteht eine temporäre intime Begegnung mit Kunst, die in völligem Gegensatz zur White Cube-Ausstellung steht. Diese Kunstpräsentation schränkt den sozialen Austausch zwar stark ein, reflektiert jedoch ein für die aktuelle Ausstellung übergreifendes Thema:as Verhältnis von Intimität und Privatsphäre zur Öffentlichkeit der Institution.  

Die vormalige Existenz der öffentlich zugänglichen Wiener Volksbäder oder Tröpferlbäder ist wohl den wenigsten Zeitgenoss*innen überhaupt bekannt. Eine Gruppe aus vier jungen Künstler*innen, die sich selbst als Forschungsgruppe bezeichnen, leakt geschichtliche Fakten der Bäder und kombiniert diese mit Fiktion. Dabei bleiben Fakt und Fiktion oft ununterscheidbar, beziehungsweise versuchen die Künstler*innen bewusst, fiktive Begebenheiten als Fakten zu verkaufen. Die fiktiven Geschichten sind queer und feministisch und schreiben somit die Tröpferlbäder in einen geschichtlichen Diskurs ein, der den Ort retrospektiv als radikal demokratisch und emanzipatorisch wahrnimmt. Diese Methodik birgt Chancen und Risiken. Als Chance sehe ich einerseits, dass der Ort durch realitätsnahe, aber fiktive Geschichten erlebbarer wird und andererseits, dass geschichtlich wahrnehmbare Tendenzen verstärkt dargestellt werden können. Die mangelnde Aufklärung am Ende des Ausstellungsbesuchs darüber, welche Exponate tatsächlich fiktiv waren, schätze ich als problematisch ein. Aber nur in den Fällen, in denen ein verzerrtes Geschichtsbild verursacht werden könnte. Selbstverständlich wird Geschichte immer wieder neu konstruiert, jedoch gerade im Zeitalter von Social Media, wo sich Fakten und Fake-News vermischen, halte ich die Aufklärung durch Künstler*innen und Forscher*innen für sehr wichtig.

Jonathan Seiffert

Gleich nach Betreten des Ausstellungsraums, der sich als einziger erhaltener Duschraum des ehemaligen Tröpfelbads entpuppt, steht der Besucher inmitten von gefliesten Nischen, die mit verschiedenen Exponaten gefüllt sind. Wer möchte, kann sich mittels Audiobegleitung durch die einzelnen Stationen führen lassen und erhält so einen Einblick in die Geschichte des Ortes, an dem sich manch kurioses Ereignis abgespielt haben soll. Wir erfahren nicht nur vom Zweck und Aufbau des Tröpferlbads, sondern zum Beispiel auch von interessanten Methoden um die Schwangerschaft nachzuweisen und dem Erweckungserlebnis einer Besucherin, die folglich aus Seifenresten und Haaren des Tröpferlbads Figuren zur Huldigung der Heiligen Paula von Rom formte; oder von Duschkäfigen, aufgrund deren unzüchtiger Nutzung einige Damen zur Kasse gebeten wurden, sowie regelmäßigen Ufosichtungen aus Kabine 8. Neben diesen hoffentlich wahren Anekdoten zeigen verschiedene Plakate, dass das Tröpferlbad schon früh ein politischer und gesellschaftlich offener Ort gewesen sein musste. Bereits 1921 wurde mit der Darstellung zwei sich küssender Frauen die Veranstaltung „Sie trifft sie im Brausebad“ beworben, wenig später das „Duschen für das güldene Matriarchat der Stadt Wien“ (jeden Dienstag ab 16 Uhr). Für den 1. März 1938 wird ein „Maskenball im Brausebad“ angekündigt, zwei Wochen vor dem Anschluss Österreichs. Die bei historischen Betrachtungen oftmals besonders hervorgehobene Zeit des Nationalsozialismus scheint bei dieser Ausstellung bewusst ausgeblendet worden zu sein, würde sie doch den weitestgehend amüsanten, oder zumindest durch die oftmals süffisanten Beschreibungen als solchen empfundenen, Charakter der Ausstellung stören.

Laut einem Interview mit der Kuratorin liegt das Interesse der vier KünstlerInnen am Tröpferlbad in seiner Funktion als sozialer Raum und Ort für Begegnungen. Tatsächlich stehen die verschiedenen Individuen und ihre Beziehungen zur Umwelt im Vordergrund und erlauben uns so einen Einblick in Einzelschicksale, aber auch gesellschaftliche Entwicklungen. Das Tröpferlbad wirkt wie ein Brennglas, das das gesamte menschliche Leben auf wenigen Quadratmetern abbildet. Da es exemplarisch für vergleichbare Räume steht, stört es weniger, dass – dem Wahrheitsanspruch von Leaks zum Trotz – keine Aufklärung geschieht, welche der Geschichten nun stimmen und welche nicht oder ob gar alles reine Fiktion ist. Neben der offensichtlichen Kritik an dem Wahrheitsgehalt von Geschichtsschreibung durch Institutionen unterstreicht die Ausstellung die Bedeutsamkeit von Orten, an denen Menschen mit unterschiedlichen Hintergründen zusammentreffen können. Daher ist es schade, dass die ausgerufene Wahl eines neuen Badeobmann*frau und angekündigte Reaktivierung des Tröpferlbads für 2023 nur eine Utopie bleibt.

Marlene Lahmer

Wieden leaks … reparative fantasies

Beim Betreten der Intervention im Männerbaderaum des ehemaligen Brausebads in der Klagbaumgasse erwartet den/die Besucher*in ein multimediales Archiv, das in den Duschkabinen, den Umkleideschränken und an den Wänden Platz gefunden hat. In seiner Bricolage-Ästhetik – Bilderrahmen, die auf verfliesten Wänden hängen, Podeste wo Leute einst unter der Brause standen – erinnert es an die Dauerausstellung des Bezirksmuseums Wieden, die zuvor in diesen Räumlichkeiten gezeigt wurde. Doch nur auf den ersten Blick, denn klar ist, dass nicht alle der gezeigten Objekte Teil einer faktisch belegbaren Geschichtsschreibung sind. Manche Exponate und Anekdoten sind Teil einer fiktiven, reparativen Erzählung, die die Künstler*innen erfunden haben, um das Wiedner Tröpferlbad als queeren, fortschrittlichen Ort nachträglich in die Vergangenheit einzuschreiben.

Beim ersten Durchgehen ohne Audioguide und Booklet zwischen den anderen Besucher*innen gerate ich in Panik: Wie soll ich die von den Künstler*innen eingeschleusten Sammlungsgegenstände erkennen? Werde ich sie (und ihr transformatives Potential) ohne weitere Hilfsmittel lesen können? Ein Plakat am Ende des ersten Duschengangs, das mit einem täuschend echten Jugendstil-Motiv zweier umschlungener, sich küssender Frauen und der Aufschrift „sie trifft sie im Tröpferlbad“ für lesbisches Sexdating wirbt, und ein weiteres, das im sozialistischen Stil des roten Wiens zum „Baden fürs güldene Matriarchat“ aufruft, brechen die anfängliche Orientierungslosigkeit. Von diesem persönlichen Einstiegspunkt aus erschließen sich mir die Interventionen als queere, queerende [1] Geschichtsumschreibungen, die die heteronormativen [2] Standards der realen Wiener Institution Tröpferlbad unterwandern. Mit einer fiktiven Freilegung von queerer und feministischer Geschichte in Wien gibt uns die Wieden Leaks Gruppe (Christopher Frieß, Marlene Fröhlich, Leonhard Pill, Noa Schaub) einen lokalen Referenzpunkt in der Vergangenheit (das vermeintlich progressive Tröpferlbad wurde 1893 eröffnet), auf den wir uns in heutigen Gleichberechtigungskämpfen gerne beziehen können würden – eine vergessene queer-feministische Wiener Tradition sozusagen. Dabei spielt es keine Rolle, ob die Geschichte(l)n der Wieden Leaks Gruppe auf den Tatsachen einer nachweisbaren Vergangenheit beruht: Was zählt ist die Erzählung.

Geschichtsfiktionen in der Kunst sind erprobte Methoden, um Perspektivenwechsel anzuregen oder vergessenen Schicksalen Namen zu geben  – Yin-Ju Chens Extrastellar Evaluations [3] oder Jaanus Sammas NSFW. A Chairman’s Tale [4] sind nur zwei Beispiele von vielen –, doch um die Vorgänge (von Empowerment) zu beschreiben, die die Wieden Leaks Gruppe hier in Gang setzt, bediene ich mich einer Interpretation aus der Literaturtheorie, dem „reparative reading“.

Das „reparative reading“ steht laut Eve Sedgwick, die den Begriff geprägt hat, im radikalen Gegensatz zum „paranoid reading“, einer skeptischen Grundhaltung gegenüber Texten, die in theoretischen Diskursen vorherrscht und deren Ziel es ist, Sachverhalte als problematisch zu entlarven, aber nicht notwendigerweise Verbesserungen in Gang zu setzen. Ein „reparative reading“ kann im Gegensatz dazu als eine Lesart verstanden werden, die es sich erlaubt, Dinge /Diskurse /Geschichte(n) /Texte, die sehr wohl Problematisches beinhalten, umzudeuten und emanzipativ nutzbar zu machen. [5] Im Sinne der “reparative fantasy” geht die Wieden Leaks Gruppe mit dem Hygienediskurs um, denn wie die Kuratorin Alina Strmljan sagt, kann man „Geschichte kaum zweigeschlechtlicher schreiben, als mit öffentlichen Bädern“.

Im Hygienediskurs öffnet Wieden Leaks eine Lücke, eine undichte Stelle im Regulativ der geschlechtlichen und sexuellen Rollenvorstellungen. In dieser Lücke ist ihre Erzählung von der queerfeministischen Utopie hinter den Türen des Tröpferlbads angesiedelt. Die Stärke dieser reparativen Geschichtsfantasie – multimedial erzählt und gespickt mit präzisen Fiktionen, die den Nerv im Paradigma ihrer vermeintlichen Zeit treffen – liegt darin, dass sie im Bezirksmuseum Wieden einen physischen Raum füllt und belebt. Im Tröpferlbad öffnet sich durch die Intervention nicht nur ein Möglichkeitsraum, wie ihn Alina Strmljan nennt, sondern ein Widerstandsraum, in dem sich die Künstler*innen spielerisch weigern, die hegemoniale [6] Geschichtsschreibung – die, wie die Geschichtswissenschaft lange weiß, zu großen Teilen aus Fiktion und Interpolation besteht – als genug anzuerkennen. Ihre Erzählungen wollen durchsickern und als urbane Legenden in der Stadt fortbestehen.

[1] vgl. “to queer (verb)”: etwas im queeren Sinne unterwandern /infiltrieren /mit Bedeutung füllen

[2] heteronormativ: der Idee entsprechend, dass es nur zwei Geschlechter gibt, die sich nur gegenseitig anziehen

[3] http://www.yinjuchen.com/

installation.html#extra

[4] https://www.jaanussamma.eu/nsfw-a-chairmans-tale/

[5] Eve Sedgwick. Novel Gazing: Queer Readings in Fiction (Series Q). 1997.

[6] hegemonial: von denen geprägt, die sich bisher in Machtpositionen befunden haben

Katharina Hoffmann

Leak [verb]

 

1 [intransitive, transitive] to allow liquid or gas to get in or out through a small hole

 

2 [transitive] leak something (to somebody) to give secret information to the public, for example by telling a newspaper [Oxford Learner’s Dictionaries]

 

Die letzte Ausstellung der vier Kurzinterventionen ist eng an ihren Ort gebunden. Das Wieden Bezirksmuseum stellt eine Bandbreite an Objekten aus, worauf die Forschungsgruppe WIEDEN LEAKS reagiert. Christopher Frieß, Marlene Fröhlich, Leonhard Pill und Noa Schaub forschten rund um das Thema Tröpferlbad. Die Präsentation der Gruppe spiegelt nicht bloß ihre Recherche wieder, sondern untermalen die Ergebnisse mit  eigens produzierten Geschichten, die direkten Bezug auf die Gegenstände des Bezirksmuseums als auch das Tröpferlbad[1] selbst nehmen. Diese Inhalte werden dann geleaked. Die Doppeldeutigkeit des Wortes Leak deutet damit nicht nur auf den Ausstellungsraum hin, sondern auch auf die Weitergabe von Wissen an die Öffentlichkeit. 

Die Gesundheit und Hygiene stehen im Vordergrund. Der „authentische Raum“[2] dient als zentrales Zeugnis des Wiener Alltags. Männer und Frauen waschen gemeinsam an einem öffentlichen Ort ihren Körper mit Seife. Ich stelle mir den Geruch von dieser Seife vor und die daraus resultierende Sauberkeit der Haut, während der Schmutz in den Abfluss rinnt. Die doppelte Ausstellungskraft dieser Intervention ist das eigentlich Faszinierende: Die Künstler*innen transferieren den Raum von einem öffentlichen Brausebad zu einem zugänglichen Ausstellungsraum. Die hinzugefügten Exponate stehen in einer Wechselbeziehung zum Bad, da sie entweder aus dem Bezirksmuseum selbst stammen oder thematisch passend ins Tröpferlbad hinzugefügt wurden. Obendrauf wird dem*r Besucher*in nicht nur wissenschaftliche Inhalte vermittelt, sondern Geschichten erzählt, die durch einen kreativen Prozess entwickelt worden sind.

Ein Audioguide übernimmt mir das Lesen der Texte ab und führt mich von Kabine zu Kabine. Ich lasse mich auf die Geschichten ein. Vieles bleibt in meinem Kopf hängen, wie der Schwangerschaftstest mithilfe eines Frosches, der Akt der Körperwaschung, Duschradios oder die Geburtsfliesen. Während die Informationen durch Erzählungen aus der Ausstellung in die Öffentlichkeit durchsickern, merke ich erst, wo sich bei mir die undichten Stellen meines Wissens befinden. Auch wenn ich versuche sie anhand von Nachforschungen wettzumachen, ist die Gruppe mir schon einen Schritt voraus: Durch die Erzählungen weisen sie auf die fehlenden Quellen und wissenschaftliche Recherche hin.

[1] Ehemaliges öffentliches Brausebad

[2] Teilweise wurde dem Raum neue Teile hinzugefügt

Adrian Praschl-Bichler

Mit der Entscheidung den Sprung ins kalte Wasser zu wagen und die Ausstellung Wieden Leaks im Tröpferlbad des Wiedner Bezirksmuseums zu besuchen, geht man bestimmt nicht baden. Aber genug von lauen Wortspielereien. Der Ort des ehemaligen öffentlichen Bades eröffnet eine völlig neuartige Möglichkeit des Ausstellens von Exponaten. Die weiß gefliesten, nach vorne offenen Duschkabinen zeigen jeweils ein Werk oder mehrere zusammengehörende Werke, die eine Geschichte erzählen, und bilden einen privaten Erfahrungsraum für eine einzelne, maximal noch eine zweite Person. Es entsteht eine temporäre intime Begegnung mit Kunst, die in völligem Gegensatz zur White Cube-Ausstellung steht. Diese Kunstpräsentation schränkt den sozialen Austausch zwar stark ein, reflektiert jedoch ein für die aktuelle Ausstellung übergreifendes Thema:as Verhältnis von Intimität und Privatsphäre zur Öffentlichkeit der Institution.  

Die vormalige Existenz der öffentlich zugänglichen Wiener Volksbäder oder Tröpferlbäder ist wohl den wenigsten Zeitgenoss*innen überhaupt bekannt. Eine Gruppe aus vier jungen Künstler*innen, die sich selbst als Forschungsgruppe bezeichnen, leakt geschichtliche Fakten der Bäder und kombiniert diese mit Fiktion. Dabei bleiben Fakt und Fiktion oft ununterscheidbar, beziehungsweise versuchen die Künstler*innen bewusst, fiktive Begebenheiten als Fakten zu verkaufen. Die fiktiven Geschichten sind queer und feministisch und schreiben somit die Tröpferlbäder in einen geschichtlichen Diskurs ein, der den Ort retrospektiv als radikal demokratisch und emanzipatorisch wahrnimmt. Diese Methodik birgt Chancen und Risiken. Als Chance sehe ich einerseits, dass der Ort durch realitätsnahe, aber fiktive Geschichten erlebbarer wird und andererseits, dass geschichtlich wahrnehmbare Tendenzen verstärkt dargestellt werden können. Die mangelnde Aufklärung am Ende des Ausstellungsbesuchs darüber, welche Exponate tatsächlich fiktiv waren, schätze ich als problematisch ein. Aber nur in den Fällen, in denen ein verzerrtes Geschichtsbild verursacht werden könnte. Selbstverständlich wird Geschichte immer wieder neu konstruiert, jedoch gerade im Zeitalter von Social Media, wo sich Fakten und Fake-News vermischen, halte ich die Aufklärung durch Künstler*innen und Forscher*innen für sehr wichtig.

Jonathan Seiffert

Gleich nach Betreten des Ausstellungsraums, der sich als einziger erhaltener Duschraum des ehemaligen Tröpfelbads entpuppt, steht der Besucher inmitten von gefliesten Nischen, die mit verschiedenen Exponaten gefüllt sind. Wer möchte, kann sich mittels Audiobegleitung durch die einzelnen Stationen führen lassen und erhält so einen Einblick in die Geschichte des Ortes, an dem sich manch kurioses Ereignis abgespielt haben soll. Wir erfahren nicht nur vom Zweck und Aufbau des Tröpferlbads, sondern zum Beispiel auch von interessanten Methoden um die Schwangerschaft nachzuweisen und dem Erweckungserlebnis einer Besucherin, die folglich aus Seifenresten und Haaren des Tröpferlbads Figuren zur Huldigung der Heiligen Paula von Rom formte; oder von Duschkäfigen, aufgrund deren unzüchtiger Nutzung einige Damen zur Kasse gebeten wurden, sowie regelmäßigen Ufosichtungen aus Kabine 8. Neben diesen hoffentlich wahren Anekdoten zeigen verschiedene Plakate, dass das Tröpferlbad schon früh ein politischer und gesellschaftlich offener Ort gewesen sein musste. Bereits 1921 wurde mit der Darstellung zwei sich küssender Frauen die Veranstaltung „Sie trifft sie im Brausebad“ beworben, wenig später das „Duschen für das güldene Matriarchat der Stadt Wien“ (jeden Dienstag ab 16 Uhr). Für den 1. März 1938 wird ein „Maskenball im Brausebad“ angekündigt, zwei Wochen vor dem Anschluss Österreichs. Die bei historischen Betrachtungen oftmals besonders hervorgehobene Zeit des Nationalsozialismus scheint bei dieser Ausstellung bewusst ausgeblendet worden zu sein, würde sie doch den weitestgehend amüsanten, oder zumindest durch die oftmals süffisanten Beschreibungen als solchen empfundenen, Charakter der Ausstellung stören.

Laut einem Interview mit der Kuratorin liegt das Interesse der vier KünstlerInnen am Tröpferlbad in seiner Funktion als sozialer Raum und Ort für Begegnungen. Tatsächlich stehen die verschiedenen Individuen und ihre Beziehungen zur Umwelt im Vordergrund und erlauben uns so einen Einblick in Einzelschicksale, aber auch gesellschaftliche Entwicklungen. Das Tröpferlbad wirkt wie ein Brennglas, das das gesamte menschliche Leben auf wenigen Quadratmetern abbildet. Da es exemplarisch für vergleichbare Räume steht, stört es weniger, dass – dem Wahrheitsanspruch von Leaks zum Trotz – keine Aufklärung geschieht, welche der Geschichten nun stimmen und welche nicht oder ob gar alles reine Fiktion ist. Neben der offensichtlichen Kritik an dem Wahrheitsgehalt von Geschichtsschreibung durch Institutionen unterstreicht die Ausstellung die Bedeutsamkeit von Orten, an denen Menschen mit unterschiedlichen Hintergründen zusammentreffen können. Daher ist es schade, dass die ausgerufene Wahl eines neuen Badeobmann*frau und angekündigte Reaktivierung des Tröpferlbads für 2023 nur eine Utopie bleibt.

Marlene Lahmer

Wieden leaks … reparative fantasies

Beim Betreten der Intervention im Männerbaderaum des ehemaligen Brausebads in der Klagbaumgasse erwartet den/die Besucher*in ein multimediales Archiv, das in den Duschkabinen, den Umkleideschränken und an den Wänden Platz gefunden hat. In seiner Bricolage-Ästhetik – Bilderrahmen, die auf verfliesten Wänden hängen, Podeste wo Leute einst unter der Brause standen – erinnert es an die Dauerausstellung des Bezirksmuseums Wieden, die zuvor in diesen Räumlichkeiten gezeigt wurde. Doch nur auf den ersten Blick, denn klar ist, dass nicht alle der gezeigten Objekte Teil einer faktisch belegbaren Geschichtsschreibung sind. Manche Exponate und Anekdoten sind Teil einer fiktiven, reparativen Erzählung, die die Künstler*innen erfunden haben, um das Wiedner Tröpferlbad als queeren, fortschrittlichen Ort nachträglich in die Vergangenheit einzuschreiben.

Beim ersten Durchgehen ohne Audioguide und Booklet zwischen den anderen Besucher*innen gerate ich in Panik: Wie soll ich die von den Künstler*innen eingeschleusten Sammlungsgegenstände erkennen? Werde ich sie (und ihr transformatives Potential) ohne weitere Hilfsmittel lesen können? Ein Plakat am Ende des ersten Duschengangs, das mit einem täuschend echten Jugendstil-Motiv zweier umschlungener, sich küssender Frauen und der Aufschrift „sie trifft sie im Tröpferlbad“ für lesbisches Sexdating wirbt, und ein weiteres, das im sozialistischen Stil des roten Wiens zum „Baden fürs güldene Matriarchat“ aufruft, brechen die anfängliche Orientierungslosigkeit. Von diesem persönlichen Einstiegspunkt aus erschließen sich mir die Interventionen als queere, queerende [1] Geschichtsumschreibungen, die die heteronormativen [2] Standards der realen Wiener Institution Tröpferlbad unterwandern. Mit einer fiktiven Freilegung von queerer und feministischer Geschichte in Wien gibt uns die Wieden Leaks Gruppe (Christopher Frieß, Marlene Fröhlich, Leonhard Pill, Noa Schaub) einen lokalen Referenzpunkt in der Vergangenheit (das vermeintlich progressive Tröpferlbad wurde 1893 eröffnet), auf den wir uns in heutigen Gleichberechtigungskämpfen gerne beziehen können würden – eine vergessene queer-feministische Wiener Tradition sozusagen. Dabei spielt es keine Rolle, ob die Geschichte(l)n der Wieden Leaks Gruppe auf den Tatsachen einer nachweisbaren Vergangenheit beruht: Was zählt ist die Erzählung.

Geschichtsfiktionen in der Kunst sind erprobte Methoden, um Perspektivenwechsel anzuregen oder vergessenen Schicksalen Namen zu geben  – Yin-Ju Chens Extrastellar Evaluations [3] oder Jaanus Sammas NSFW. A Chairman’s Tale [4] sind nur zwei Beispiele von vielen –, doch um die Vorgänge (von Empowerment) zu beschreiben, die die Wieden Leaks Gruppe hier in Gang setzt, bediene ich mich einer Interpretation aus der Literaturtheorie, dem „reparative reading“.

Das „reparative reading“ steht laut Eve Sedgwick, die den Begriff geprägt hat, im radikalen Gegensatz zum „paranoid reading“, einer skeptischen Grundhaltung gegenüber Texten, die in theoretischen Diskursen vorherrscht und deren Ziel es ist, Sachverhalte als problematisch zu entlarven, aber nicht notwendigerweise Verbesserungen in Gang zu setzen. Ein „reparative reading“ kann im Gegensatz dazu als eine Lesart verstanden werden, die es sich erlaubt, Dinge /Diskurse /Geschichte(n) /Texte, die sehr wohl Problematisches beinhalten, umzudeuten und emanzipativ nutzbar zu machen. [5] Im Sinne der “reparative fantasy” geht die Wieden Leaks Gruppe mit dem Hygienediskurs um, denn wie die Kuratorin Alina Strmljan sagt, kann man „Geschichte kaum zweigeschlechtlicher schreiben, als mit öffentlichen Bädern“.

Im Hygienediskurs öffnet Wieden Leaks eine Lücke, eine undichte Stelle im Regulativ der geschlechtlichen und sexuellen Rollenvorstellungen. In dieser Lücke ist ihre Erzählung von der queerfeministischen Utopie hinter den Türen des Tröpferlbads angesiedelt. Die Stärke dieser reparativen Geschichtsfantasie – multimedial erzählt und gespickt mit präzisen Fiktionen, die den Nerv im Paradigma ihrer vermeintlichen Zeit treffen – liegt darin, dass sie im Bezirksmuseum Wieden einen physischen Raum füllt und belebt. Im Tröpferlbad öffnet sich durch die Intervention nicht nur ein Möglichkeitsraum, wie ihn Alina Strmljan nennt, sondern ein Widerstandsraum, in dem sich die Künstler*innen spielerisch weigern, die hegemoniale [6] Geschichtsschreibung – die, wie die Geschichtswissenschaft lange weiß, zu großen Teilen aus Fiktion und Interpolation besteht – als genug anzuerkennen. Ihre Erzählungen wollen durchsickern und als urbane Legenden in der Stadt fortbestehen.

[1] vgl. “to queer (verb)”: etwas im queeren Sinne unterwandern /infiltrieren /mit Bedeutung füllen

[2] heteronormativ: der Idee entsprechend, dass es nur zwei Geschlechter gibt, die sich nur gegenseitig anziehen

[3] http://www.yinjuchen.com/

installation.html#extra

[4] https://www.jaanussamma.eu/nsfw-a-chairmans-tale/

[5] Eve Sedgwick. Novel Gazing: Queer Readings in Fiction (Series Q). 1997.

[6] hegemonial: von denen geprägt, die sich bisher in Machtpositionen befunden haben

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