Jonathan Seiffert
Fadime Gunsam
Sarah Kobelhirt
Herta Müller, Ausstellungsansicht Wenn man spricht ist immer jetzt – sonst nicht, Bank Austria Kunstforum Wien, Wien, 2020, Foto Credits: Fadime Gunsam
Jonathan Seiffert
Gleich nach Betreten des Ausstellungsraums „Tresor“ im Bank Austria Forum Wien wird der Besucher von einer Stimme beschallt, deren Lautstärke das klingelnde Handy und anschließende Telefonat einer sich vor Ort befindenden Rentnerin mühelos übertönt. Die Stimme aus den Lautsprechern gehört Herta Müller, einer deutschen Schriftstellerin, die in Rumänien geboren und zur Zeit des Ceaușescu-Regimes aufgewachsen ist. In dem gezeigten Film beschreibt sie Eindrücke und Erlebnisse, wie die Verfolgung durch den Geheimdienst Securitate während der Diktatur in Rumänien. Zudem kommen Zeitzeugen und Kulturschaffende zu Wort, die einen Einblick in den damaligen Alltag und die heutigen Auswirkungen jener totalitären Herrschaft geben.
Diese Thematik wird in den über hundert Collagen, die in elf Serien unterteilt sind, aufgegriffen. In einheitlichen Rahmen und Passepartouts sind bunte Textblöcke und jeweils eine Illustration gefasst, die in poetischer Form einen konkreten, mal weniger konkreten Bezug zu Herta Müllers Zeit in Rumänien erkennen lassen. Die Texte unterliegen zum Teil einem Reimschema, sind entweder in sich geschlossen oder verbleiben als Fragment offen. Zentrale Themen sind Angst, Verfolgung, Abschied, Flucht und Heimweh. Dabei werden diese jedoch nicht eindeutig benannt, sondern mit immer wiederkehrenden Wörtern wie “Beamte”, “Soldaten”, “Heimat”, “Koffer”, “Samt” oder “Brombeerblatt” angedeutet. Indem sie nicht explizit mit der Geschichte Rumäniens verknüpft werden, werden die Texte universeller und lassen sich auch auf die Situation in Ländern mit ähnlichen Umständen übertragen.
Die schiere Menge an Exponaten wird für den Besucher zu einer Herausforderung, möchte er jeder Collage gleich viel Hingabe schenken. Das Betrachten und Begreifen der Arbeiten verlangt erhöhte Konzentration. Die einzelnen ausgeschnittenen Wörter sind ohne Interpunktion und oftmals ohne Syntax aneinandergefügt, so dass jedes Blatt mehrmaliges Lesen erfordert, um den Inhalt zu begreifen. Lässt man sich darauf ein, taucht man in bildgewaltige Welten ein, die oft nur durch wenige Wörter entstehen. Diese können humoristisch sein, etwa wenn ein Beamter des Geheimdienstes beschreibt, wie er in der Kirche einen Hund die Kerze anzünden sieht, während das auszuspionierende Herrchen bellt. Oder nehmen dadaistische Züge an, wenn sich das wandernde Schlüsselloch einer Tür als karierte Ameise entpuppt. Aber auch ernste Themen wie Machthaber, die nicht vom Thron zu stoßen sind, und vor allem viele Verweise auf das Verlassen der Heimat finden sich in den Collagen wieder. Dennoch zeichnen sich auch diese Arbeiten durch eine gewisse Leichtigkeit aus, die auf überhöhte Dramatik verzichtet. Das Spiel mit den ausgeschnittenen Wörtern macht dabei einen besonderen Reiz aus. Durch die verschiedenen Farben, Schriftarten und Schriftgrößen wird klar, dass die Texte aus unterschiedlichen Fragmenten zusammengefügt wurden. So mögen auch die Collagen nicht immer auf einzelne Geschehnisse verweisen, sondern auf ein Gefühl, das sich aus vielen Erlebnissen zusammensetzt.
Herta Müller beschreibt die Arbeit an den gezeigten Serien, die zwanzig Jahre nach ihrer Ausreise beginnt, als eine Qual. Das Erinnern an die vergangene Zeit empfindet sie nicht als Befreiung, sondern als Zumutung. Durch den Besuch der Ausstellung bekommt man ein Gefühl für diesen Prozess. Manches berührt mich tief und hallt lange nach, anderes verfliegt dauerhaft oder taucht an anderer Stelle wieder auf und tritt erneut ins Bewusstsein. Am Ende bleibt mir das diffuse Gefühl von zu vielen Eindrücken, die ich zwar kaum verarbeiten kann, die mir aber trotzdem eine Grundstimmung vermittelt haben, eine Ahnung von Herta Müllers Empfinden. Ist dies von den Kuratorinnen so beabsichtigt, sind nicht nur die Arbeiten von Herta Müller, sondern ist auch die Ausstellung selbst äußerst gelungen.
Fadime Gunsam
Wenn sich die Regeln der Sprache; d.h. das System von Zeichen auflöst, gewohnte Textstrukturen und Kommunikationsprinzipien verschwinden und Wörter dort stehen, wo sie gewöhnlich nicht hingehören, kann Sprache poetisch werden.
“ ICH gehöre daheim dorthin wo ich nicht bin und auch nicht wäre wenn ich ANDERS zurückkehre zum BEISPIEL als Schnee oder Brombeere “ –
Herta Müllers Collagen sind im Tresor des Bank Austria Kunstforums in Wien zu sehen. In ihren lyrisch-künstlerischen Arbeiten vereint die Schriftstellerin Bild und Schrift, verknüpft das Visuelle mit dem Sprachlichen. Ihre Einzelausstellung beinhaltet 135 Werke. Die Collagen sind in einheitlicher weißer Rahmung in kleinem Format ausgestellt und durch Überschriften in mehrere Themenblöcke zusammengefasst. Zwei Schaukästen zeigen zusätzlich Stücke aus dem Entstehungsprozess der Werke. Im gesamten Ausstellungsraum sind hintergründig Stimmen zu hören, die zu einer Video-Installation gehören, die für die Besucher*innen zunächst unsichtbar bleibt. Zu sehen sind Aufnahmen von Interviews mit der deutschen Schriftstellerin und verschiedenen Zeitzeugen aus dem Dorf Banat in Rumänien, in dem sie aufgewachsen ist.
“Alle reden ICH spüre jeden Satz ins kalte Wasser TRETEN” –
Man muss nähertreten, beginnen zu lesen, zu betrachten, sich darauf einlassen - um zu erfassen, um zu verstehen. In Herta Müllers Collagen sind Wortbilder mit Bildausschnitten zu einem visuellen Gesamtwerk verwoben. Diese bilden einen Textblock, der ohne syntaktische und oftmals ohne semantische Regeln dem Bildelement gegenübergestellt ist. Jeder Wortbaustein hat einen eigenen Charakter. Mal Schreibschrift, dann Druckschrift, Groß- und Kleinbuchstaben, in verschiedenen Farben, bunte Schnipsel und Abbilder, alle ausgeliehen. Sie wurden für andere Texte geschrieben und gedruckt, sie waren alle Teil eines Ganzen; zusammengesucht aus Zeitschriften und Magazinen, ausgeschnitten und aufgeklebt, gehören sie NICHT zusammen, sind nur montiert; ihrem eigentlichen Kontext entrückt und zu einem graphisch-visuellen Sprachfragment zusammengefügt. Kein Komma, kein Punkt, kein Satzzeichen. Die Grenzen zwischen Bild und Sprache, das semantisch-grammatische Sprachgefüge lösen sich langsam auf. Nur das Format hält sie zusammen, trennt sie von allen anderen. Die gewohnte Wahrnehmung wird unterbrochen und verzerrt.
“ MEINE Heimat ist ein Kleinstaat ZIMMER Küche BAD direkt UNTER der Hauptstadt IST eine Teekanne versteckt ” –
Unser Denken wird häufig von bestimmten, bereits vorhandenen, Sprachgefügen bestimmt. Kann man ohne Sprache überhaupt denken? Wir denken viel in Bildern und Vorstellungen, die eigentlich keine Sprache brauchen. Erinnerungen können oft wie Bilder aus einem Stapel abgerufen werden. Die Loslösung der Worte aus gewohnten Satzzusammenhängen, bedeutet die Auflösung der Sprachstruktur. Als einzelne Elemente sind die sprachlichen Zeichen nurmehr visuelle Wortbilder, die gleichwertig auf einer Ebene stehen. Herta Müller stellt Beziehungen her, die wir sonst nie denken würden. Sie gibt den Worten Raum. Sie fordert uns auf, in sprachgebundener Form zu denken. Vielleicht ist diese Form des Denkens notwendig, um das Abstrakte, also alles, was nicht in Bildern gedacht werden kann, zu beschreiben: Bestimmte Gefühle, Emotionen oder Orte in der Zeit.
Die Autorin stellt Analogien her. Sie wechselt den Schrifttyp einzelner Wortbilder und verändert dadurch gleichzeitig den semantischen Wortgehalt. Durch die Veränderung der Schriftgröße fügt sie eine weitere Bedeutungsebene hinzu. Durch das Setzen von Großbuchstaben und durch differenzierte Farbigkeit der Schriftbausteine, werden zusätzlich Bezüge zwischen den Wörtern verstärkt und Inhalte kommuniziert. Auf bildästhetischer Ebene werden damit Akzente gesetzt oder Gemeinsamkeiten hervorgehoben. Letztlich führen die graphisch inszenierten Collagen zu einer Vermischung von Bild und Sprache. Diese Transmedialität lässt zahlreiche Bedeutungsstrukturen entstehen, welchen der Betrachter etwas überfordert gegenübersteht.
“ kam ein Wind So FRISCH WIE Milch so ALT WIE Lehm, wurde anschmiegsam und SAH mich von innen an ” –
Mit den Worten der uns bekannten Sprache schafft Herta Müller abstrakte Bilder von Impressionen, deren Semantik wir erst verstehen lernen müssen.
Sarah Kobelhirt
Herta Müller feiert ihr Einzelausstellungsdebüt in Österreich im Bank Austria Kunstforum. Der kleine und doch groß wirkende Tresor im Untergeschoss wird für ein paar Wochen einigen ihrer kleinen Text Collagen zur Heimat. Leider gehen ihre einheitlich weiß gerahmten Werke in dem blaugrünen Raum etwas unter, aber die Hängung der einzelnen Rahmen in Gruppen entlang der Wände bildet einen Leitfaden, der den Besucher durch die Ausstellung führt. Beim näheren Betrachten, das für das Lesen der Collagen notwendig ist, verleiten die Texte den Besucher dazu, in Müllers Welt einzutauchen und ihren Sinn zu erforschen. Wer nicht mit zeitgenössischer Dichtung und Kunst vertraut ist, mag in Anbetracht der gerahmten Texte zunächst nicht an bildende Kunst denken, sind sie doch weit von Malerei oder Skulpturen, Fotografien oder Drucken entfernt. Doch Herta Müller arbeitet nicht mit den üblichen Werkzeugen der Kunst und bricht aus dem standardisierten Kanon aus. Mit ausgeschnittenen Zeitungsschnipseln kreiert sie poetische Sätze, die durch das Lesen im Besucher eine andere künstlerische Erfahrung hervorrufen, als das Betrachten eines Bildes. Durch Überschriften werden die Texte in thematische Gruppen zusammengefasst und erinnern dadurch an Bildserien, wie man sie aus der Fotografie oder dem Druck kennt.
Durch die beigefügten kleinen Bilder in den einzelnen Collagen, nähert sich die Künstlerin wieder den klassischen Formen der Kunst an. Hier spielt Müller mit der Verbindung von Wort und Bild. Die Texte scheinen keinen erkennbaren Sinn zu ergeben. Doch die beigefügten Illustrationen greifen oftmals den Titel der Werkgruppe oder den Inhalt des Textes auf und ermöglichen es dem Betrachter dadurch, das Gelesene besser zu kontextualisieren und zu verstehen. Aber die fehlenden Satzzeichen oder sinnbestimmten Absätze machen es schwer, den Sinn des Gelesenen zu erfassen. Herta Müller versucht hier vielleicht, dem einzelnen Besucher die Möglichkeit zu geben, den Text auf seine persönliche Weise zu begreifen und in Verbindung mit der Illustration und den übergeordneten Werküberschriften durch persönliche Erfahrungen, zu interpretieren. Kenner*innen von Herta Müllers Vergangenheit versuchen an diesem Punkt vermutlich, ihre Erfahrungen mit den Collagen in Beziehung zu setzen, um diese zusammenhängend auszulegen. Diese teils sehr bewegte Vergangenheit wird in der Videoinstallation thematisiert, die einen Teil der Ausstellung bildet. Hier kommen abwechselnd Herta Müller und Bewohner ihres Heimatdorfes in Rumänien zu Wort, die über das kommunistische Regime der damaligen Zeit erzählen. Durchbrochen werden die Interviews von historischen Aufnahmen, die Szenen der Diktatur zeigen und durch ein musikalisches Stück, welches die gezeigten Szenen auflockert und dem Besucher ein Gefühl von Melancholie vermittelt.
Die Ausstellung fordert dazu auf, sich mit ihren komplexen Textcollagen und dem Inhalt des Videos auseinanderzusetzen und so den tieferen Sinn der auf den ersten Blick unzusammenhängenden Texte zu erschließen. Jedem Werk dieselbe Aufmerksamkeit zu schenken kann jedoch schnell dazu führen, dass der Geist ermüdet. Die beim ersten Eindruck klein erscheinende Ausstellung wird dann schier endlos. Außerdem stört die in Dauerschleife wiedergegebene Videoinstallation, die ein konstantes Hintergrundgeräusch erzeugt, den Denkprozess. Hinzu kommt noch die Problematik, dass einige Besucher*innen nur der Gerhard Richter Ausstellung wegen das Kunstforum besuchen. Diese begeben sich in den Keller, vielleicht auf der Suche nach Toiletten, und stolpern in Herta Müllers Collagen. Eine eher schlechte Ausgangslage, wenn man die Ausstellung der Künstlerin mit rumänischen Wurzeln in ihrem vollen Ausmaß erleben möchte. Natürlich wäre ein rein ästhetische Genuss der bunten und bebilderten Collagen eine Möglichkeit, doch dem eigentlichen Sinn der Werke würde dies nicht gerecht.
Zusammengefasst ist die Ausstellung von Herta Müller eine willkommene Abwechslung zu den standardisierten Blockbuster-Ausstellungen in den großen Museen und fordert den Betrachter zu einer intensiven Auseinandersetzung auf. Durch die Verbindung aus poetischer Bildsprache und Illustrationen schafft die Künstlerin es, den Besucher mit ihren Worten in eine neue Welt zu führen, die für jeden etwas anderes verborgen hält.
Jonathan Seiffert
Gleich nach Betreten des Ausstellungsraums „Tresor“ im Bank Austria Forum Wien wird der Besucher von einer Stimme beschallt, deren Lautstärke das klingelnde Handy und anschließende Telefonat einer sich vor Ort befindenden Rentnerin mühelos übertönt. Die Stimme aus den Lautsprechern gehört Herta Müller, einer deutschen Schriftstellerin, die in Rumänien geboren und zur Zeit des Ceaușescu-Regimes aufgewachsen ist. In dem gezeigten Film beschreibt sie Eindrücke und Erlebnisse, wie die Verfolgung durch den Geheimdienst Securitate während der Diktatur in Rumänien. Zudem kommen Zeitzeugen und Kulturschaffende zu Wort, die einen Einblick in den damaligen Alltag und die heutigen Auswirkungen jener totalitären Herrschaft geben.
Diese Thematik wird in den über hundert Collagen, die in elf Serien unterteilt sind, aufgegriffen. In einheitlichen Rahmen und Passepartouts sind bunte Textblöcke und jeweils eine Illustration gefasst, die in poetischer Form einen konkreten, mal weniger konkreten Bezug zu Herta Müllers Zeit in Rumänien erkennen lassen. Die Texte unterliegen zum Teil einem Reimschema, sind entweder in sich geschlossen oder verbleiben als Fragment offen. Zentrale Themen sind Angst, Verfolgung, Abschied, Flucht und Heimweh. Dabei werden diese jedoch nicht eindeutig benannt, sondern mit immer wiederkehrenden Wörtern wie “Beamte”, “Soldaten”, “Heimat”, “Koffer”, “Samt” oder “Brombeerblatt” angedeutet. Indem sie nicht explizit mit der Geschichte Rumäniens verknüpft werden, werden die Texte universeller und lassen sich auch auf die Situation in Ländern mit ähnlichen Umständen übertragen.
Die schiere Menge an Exponaten wird für den Besucher zu einer Herausforderung, möchte er jeder Collage gleich viel Hingabe schenken. Das Betrachten und Begreifen der Arbeiten verlangt erhöhte Konzentration. Die einzelnen ausgeschnittenen Wörter sind ohne Interpunktion und oftmals ohne Syntax aneinandergefügt, so dass jedes Blatt mehrmaliges Lesen erfordert, um den Inhalt zu begreifen. Lässt man sich darauf ein, taucht man in bildgewaltige Welten ein, die oft nur durch wenige Wörter entstehen. Diese können humoristisch sein, etwa wenn ein Beamter des Geheimdienstes beschreibt, wie er in der Kirche einen Hund die Kerze anzünden sieht, während das auszuspionierende Herrchen bellt. Oder nehmen dadaistische Züge an, wenn sich das wandernde Schlüsselloch einer Tür als karierte Ameise entpuppt. Aber auch ernste Themen wie Machthaber, die nicht vom Thron zu stoßen sind, und vor allem viele Verweise auf das Verlassen der Heimat finden sich in den Collagen wieder. Dennoch zeichnen sich auch diese Arbeiten durch eine gewisse Leichtigkeit aus, die auf überhöhte Dramatik verzichtet. Das Spiel mit den ausgeschnittenen Wörtern macht dabei einen besonderen Reiz aus. Durch die verschiedenen Farben, Schriftarten und Schriftgrößen wird klar, dass die Texte aus unterschiedlichen Fragmenten zusammengefügt wurden. So mögen auch die Collagen nicht immer auf einzelne Geschehnisse verweisen, sondern auf ein Gefühl, das sich aus vielen Erlebnissen zusammensetzt.
Herta Müller beschreibt die Arbeit an den gezeigten Serien, die zwanzig Jahre nach ihrer Ausreise beginnt, als eine Qual. Das Erinnern an die vergangene Zeit empfindet sie nicht als Befreiung, sondern als Zumutung. Durch den Besuch der Ausstellung bekommt man ein Gefühl für diesen Prozess. Manches berührt mich tief und hallt lange nach, anderes verfliegt dauerhaft oder taucht an anderer Stelle wieder auf und tritt erneut ins Bewusstsein. Am Ende bleibt mir das diffuse Gefühl von zu vielen Eindrücken, die ich zwar kaum verarbeiten kann, die mir aber trotzdem eine Grundstimmung vermittelt haben, eine Ahnung von Herta Müllers Empfinden. Ist dies von den Kuratorinnen so beabsichtigt, sind nicht nur die Arbeiten von Herta Müller, sondern ist auch die Ausstellung selbst äußerst gelungen.
Fadime Gunsam
Wenn sich die Regeln der Sprache; d.h. das System von Zeichen auflöst, gewohnte Textstrukturen und Kommunikationsprinzipien verschwinden und Wörter dort stehen, wo sie gewöhnlich nicht hingehören, kann Sprache poetisch werden.
“ ICH gehöre daheim dorthin wo ich nicht bin und auch nicht wäre wenn ich ANDERS zurückkehre zum BEISPIEL als Schnee oder Brombeere “ –
Herta Müllers Collagen sind im Tresor des Bank Austria Kunstforums in Wien zu sehen. In ihren lyrisch-künstlerischen Arbeiten vereint die Schriftstellerin Bild und Schrift, verknüpft das Visuelle mit dem Sprachlichen. Ihre Einzelausstellung beinhaltet 135 Werke. Die Collagen sind in einheitlicher weißer Rahmung in kleinem Format ausgestellt und durch Überschriften in mehrere Themenblöcke zusammengefasst. Zwei Schaukästen zeigen zusätzlich Stücke aus dem Entstehungsprozess der Werke. Im gesamten Ausstellungsraum sind hintergründig Stimmen zu hören, die zu einer Video-Installation gehören, die für die Besucher*innen zunächst unsichtbar bleibt. Zu sehen sind Aufnahmen von Interviews mit der deutschen Schriftstellerin und verschiedenen Zeitzeugen aus dem Dorf Banat in Rumänien, in dem sie aufgewachsen ist.
“Alle reden ICH spüre jeden Satz ins kalte Wasser TRETEN” –
Man muss nähertreten, beginnen zu lesen, zu betrachten, sich darauf einlassen - um zu erfassen, um zu verstehen. In Herta Müllers Collagen sind Wortbilder mit Bildausschnitten zu einem visuellen Gesamtwerk verwoben. Diese bilden einen Textblock, der ohne syntaktische und oftmals ohne semantische Regeln dem Bildelement gegenübergestellt ist. Jeder Wortbaustein hat einen eigenen Charakter. Mal Schreibschrift, dann Druckschrift, Groß- und Kleinbuchstaben, in verschiedenen Farben, bunte Schnipsel und Abbilder, alle ausgeliehen. Sie wurden für andere Texte geschrieben und gedruckt, sie waren alle Teil eines Ganzen; zusammengesucht aus Zeitschriften und Magazinen, ausgeschnitten und aufgeklebt, gehören sie NICHT zusammen, sind nur montiert; ihrem eigentlichen Kontext entrückt und zu einem graphisch-visuellen Sprachfragment zusammengefügt. Kein Komma, kein Punkt, kein Satzzeichen. Die Grenzen zwischen Bild und Sprache, das semantisch-grammatische Sprachgefüge lösen sich langsam auf. Nur das Format hält sie zusammen, trennt sie von allen anderen. Die gewohnte Wahrnehmung wird unterbrochen und verzerrt.
“ MEINE Heimat ist ein Kleinstaat ZIMMER Küche BAD direkt UNTER der Hauptstadt IST eine Teekanne versteckt ” –
Unser Denken wird häufig von bestimmten, bereits vorhandenen, Sprachgefügen bestimmt. Kann man ohne Sprache überhaupt denken? Wir denken viel in Bildern und Vorstellungen, die eigentlich keine Sprache brauchen. Erinnerungen können oft wie Bilder aus einem Stapel abgerufen werden. Die Loslösung der Worte aus gewohnten Satzzusammenhängen, bedeutet die Auflösung der Sprachstruktur. Als einzelne Elemente sind die sprachlichen Zeichen nurmehr visuelle Wortbilder, die gleichwertig auf einer Ebene stehen. Herta Müller stellt Beziehungen her, die wir sonst nie denken würden. Sie gibt den Worten Raum. Sie fordert uns auf, in sprachgebundener Form zu denken. Vielleicht ist diese Form des Denkens notwendig, um das Abstrakte, also alles, was nicht in Bildern gedacht werden kann, zu beschreiben: Bestimmte Gefühle, Emotionen oder Orte in der Zeit.
Die Autorin stellt Analogien her. Sie wechselt den Schrifttyp einzelner Wortbilder und verändert dadurch gleichzeitig den semantischen Wortgehalt. Durch die Veränderung der Schriftgröße fügt sie eine weitere Bedeutungsebene hinzu. Durch das Setzen von Großbuchstaben und durch differenzierte Farbigkeit der Schriftbausteine, werden zusätzlich Bezüge zwischen den Wörtern verstärkt und Inhalte kommuniziert. Auf bildästhetischer Ebene werden damit Akzente gesetzt oder Gemeinsamkeiten hervorgehoben. Letztlich führen die graphisch inszenierten Collagen zu einer Vermischung von Bild und Sprache. Diese Transmedialität lässt zahlreiche Bedeutungsstrukturen entstehen, welchen der Betrachter etwas überfordert gegenübersteht.
“ kam ein Wind So FRISCH WIE Milch so ALT WIE Lehm, wurde anschmiegsam und SAH mich von innen an ” –
Mit den Worten der uns bekannten Sprache schafft Herta Müller abstrakte Bilder von Impressionen, deren Semantik wir erst verstehen lernen müssen.
Sarah Kobelhirt
Herta Müller feiert ihr Einzelausstellungsdebüt in Österreich im Bank Austria Kunstforum. Der kleine und doch groß wirkende Tresor im Untergeschoss wird für ein paar Wochen einigen ihrer kleinen Text Collagen zur Heimat. Leider gehen ihre einheitlich weiß gerahmten Werke in dem blaugrünen Raum etwas unter, aber die Hängung der einzelnen Rahmen in Gruppen entlang der Wände bildet einen Leitfaden, der den Besucher durch die Ausstellung führt. Beim näheren Betrachten, das für das Lesen der Collagen notwendig ist, verleiten die Texte den Besucher dazu, in Müllers Welt einzutauchen und ihren Sinn zu erforschen. Wer nicht mit zeitgenössischer Dichtung und Kunst vertraut ist, mag in Anbetracht der gerahmten Texte zunächst nicht an bildende Kunst denken, sind sie doch weit von Malerei oder Skulpturen, Fotografien oder Drucken entfernt. Doch Herta Müller arbeitet nicht mit den üblichen Werkzeugen der Kunst und bricht aus dem standardisierten Kanon aus. Mit ausgeschnittenen Zeitungsschnipseln kreiert sie poetische Sätze, die durch das Lesen im Besucher eine andere künstlerische Erfahrung hervorrufen, als das Betrachten eines Bildes. Durch Überschriften werden die Texte in thematische Gruppen zusammengefasst und erinnern dadurch an Bildserien, wie man sie aus der Fotografie oder dem Druck kennt.
Durch die beigefügten kleinen Bilder in den einzelnen Collagen, nähert sich die Künstlerin wieder den klassischen Formen der Kunst an. Hier spielt Müller mit der Verbindung von Wort und Bild. Die Texte scheinen keinen erkennbaren Sinn zu ergeben. Doch die beigefügten Illustrationen greifen oftmals den Titel der Werkgruppe oder den Inhalt des Textes auf und ermöglichen es dem Betrachter dadurch, das Gelesene besser zu kontextualisieren und zu verstehen. Aber die fehlenden Satzzeichen oder sinnbestimmten Absätze machen es schwer, den Sinn des Gelesenen zu erfassen. Herta Müller versucht hier vielleicht, dem einzelnen Besucher die Möglichkeit zu geben, den Text auf seine persönliche Weise zu begreifen und in Verbindung mit der Illustration und den übergeordneten Werküberschriften durch persönliche Erfahrungen, zu interpretieren. Kenner*innen von Herta Müllers Vergangenheit versuchen an diesem Punkt vermutlich, ihre Erfahrungen mit den Collagen in Beziehung zu setzen, um diese zusammenhängend auszulegen. Diese teils sehr bewegte Vergangenheit wird in der Videoinstallation thematisiert, die einen Teil der Ausstellung bildet. Hier kommen abwechselnd Herta Müller und Bewohner ihres Heimatdorfes in Rumänien zu Wort, die über das kommunistische Regime der damaligen Zeit erzählen. Durchbrochen werden die Interviews von historischen Aufnahmen, die Szenen der Diktatur zeigen und durch ein musikalisches Stück, welches die gezeigten Szenen auflockert und dem Besucher ein Gefühl von Melancholie vermittelt.
Die Ausstellung fordert dazu auf, sich mit ihren komplexen Textcollagen und dem Inhalt des Videos auseinanderzusetzen und so den tieferen Sinn der auf den ersten Blick unzusammenhängenden Texte zu erschließen. Jedem Werk dieselbe Aufmerksamkeit zu schenken kann jedoch schnell dazu führen, dass der Geist ermüdet. Die beim ersten Eindruck klein erscheinende Ausstellung wird dann schier endlos. Außerdem stört die in Dauerschleife wiedergegebene Videoinstallation, die ein konstantes Hintergrundgeräusch erzeugt, den Denkprozess. Hinzu kommt noch die Problematik, dass einige Besucher*innen nur der Gerhard Richter Ausstellung wegen das Kunstforum besuchen. Diese begeben sich in den Keller, vielleicht auf der Suche nach Toiletten, und stolpern in Herta Müllers Collagen. Eine eher schlechte Ausgangslage, wenn man die Ausstellung der Künstlerin mit rumänischen Wurzeln in ihrem vollen Ausmaß erleben möchte. Natürlich wäre ein rein ästhetische Genuss der bunten und bebilderten Collagen eine Möglichkeit, doch dem eigentlichen Sinn der Werke würde dies nicht gerecht.
Zusammengefasst ist die Ausstellung von Herta Müller eine willkommene Abwechslung zu den standardisierten Blockbuster-Ausstellungen in den großen Museen und fordert den Betrachter zu einer intensiven Auseinandersetzung auf. Durch die Verbindung aus poetischer Bildsprache und Illustrationen schafft die Künstlerin es, den Besucher mit ihren Worten in eine neue Welt zu führen, die für jeden etwas anderes verborgen hält.
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